Erfolg macht einsam

Jeder träumt von großen Erfolgen. Der Schauspieler von der Rolle seines Lebens, der Sportler von der Medaille bei den Olympischen Spielen und der Unternehmer hofft auf den Durchbruch mit seiner Geschäftsidee. Selbst bescheidene und bodenständige Menschen wachsen über sich hinaus, wenn sie erfolgreich sind in dem, was immer sie auch tun. Erfolg macht sexy, Erfolg macht selbstbewusst.

Sie sah mich traurig an. Tränen liefen über ihr verquollenes Gesicht. Wir saßen uns gegenüber und waren doch so weit voneinander entfernt wie zwei Sterne am Nachthimmel. Worte konnten nicht mehr helfen. Es war alles gesagt.

Dabei fing es so gut an. Das Studium, die große Liebe, der Job bei einer renommierten Firma, die Hochzeit und die erste gemeinsame Wohnung. Unsere Zuneigung war so unendlich, dass sie für mehr als zwei Personen reichte. Wir wollten Kinder. Wir wollten eine große, glückliche Familie werden.

Nach der Geburt unserer Tochter kauften wir ein Haus. Meine Frau kündigte ihren Job und kümmerte sich liebevoll um das Baby. Zwei Jahre später erblickte unser Sohn das Licht dieser Welt. Der Traum wurde wahr – und begann, Geld zu kosten.

In dieser Zeit bekam ich die Chance, beruflich ganz nach oben zu kommen. Wir sprachen gemeinsam darüber, dass mit dem Erfolg im Job auch eine Verbesserung der finanziellen Situation einhergehen würde. Dann kamen die ersten Nächte, an denen ich nicht zu Hause war. Bald waren es Reisen, die sich über mehrere Tage erstreckten. Mittlerweile schlafe ich öfter in den Hotels ferner Länder als in meinem eigenen Bett.

Ich habe hart dafür gearbeitet. Musste lernen zu verzichten. Heute bin ich erfolgreich. Was für ein blödes Wort. Macht Erfolg wirklich reich? Nein, im Gegenteil. Niemand hatte mir erzählt, dass dieser mit einem hohen Preis verbunden ist. Mein Preis war die Familie.

Mein Bestreben war immer der größtmögliche Erfolg. Im Beruf und in der Familie. Dabei übersah ich, was ich meiner geliebten Frau und den Kindern damit angetan habe. Zur Einschulung meines Sohnes war ich nicht da, um seine Freude mitzuerleben. Als meine Tochter die Premiere ihrer Aufführung mit der Theatergruppe hatte, saß ich in einer wichtigen Vertragsverhandlung in Johannesburg. Den Erfolg feierte ich bis spät in die Nacht mit Kollegen. Zum 20. Hochzeitstag schickte ich Blumen, die ich bei ihrem Lieblingsblumenhändler bestellte. Mittags telefonierten wir miteinander – während eines Geschäftsessens in einem Restaurant in Peking.

Wie viele Geburtstage der Kinder war ich nicht zu Hause? Wie viele enttäuschte Gesichter habe ich in all den Jahren in Videonachrichten gesehen?

Jetzt sitze ich hier in der Businesslounge am Flughafen und warte auf den Flug nach New York. Ich habe es beruflich weit gebracht. Ich habe Erfolg.

Wird meine Familie noch da sein, wenn ich zurückkomme?

Erfolg macht einsam.