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Der letzte Sturm

  • helmut-schreibt
  • 22. Okt.
  • 5 Min. Lesezeit

Es geschah an einem Mittwoch. Ich kann mich genau an diesen Tag erinnern. Bereits vor meiner Geburt hatten die Stürme weltweit zugenommen. »Das liegt am Klimawandel«, hatte Mutter mir erklärt. Ich kannte die Welt nicht anders. Gelegentlich sah ich mir Videos aus der Vergangenheit auf meiner Brille an. Filme, auf denen ein blauer Himmel zu sehen war oder Strände mit weißem Sand. Am liebsten lud ich die Dateien hoch, die riesige Wälder zeigten, deren Baumwipfel sich langsam im sanften Wind hin- und herbewegten.

 

An diesem Mittwoch änderte sich die Welt um mich herum, doch nicht jedem war es direkt aufgefallen. Mein Vater kam abends nach Hause und erzählte freudig von seiner Fahrt mit dem Fahrrad. »Das war richtig gut heute. Ich hatte Glück und nur Rückenwind.«

 

In der Nacht war es ungewöhnlich still im Haus. Normalerweise zerrte der Sturm an den Mauern und das Dach knarzte und knackte. Doch ich hörte nur ein konstantes Rauschen. Als ich am Morgen in die Küche kam, saßen meine Eltern freudig lächelnd in ihren Sesseln, die klobigen VR-Brillen auf den Nasen. »Was ist los?«, fragte ich. »Der Wind«, antwortete Vater mit erregter Stimme. »Er hat sich verändert. Die Zeit der Orkane ist vorbei. Sie haben es gerade berichtet.«

 

In den kommenden Tagen gab es in den Nachrichtensendungen nur noch dieses eine Thema. Die heftigen Stürme der letzten Jahre waren Geschichte. Einer internationalen Forschergruppe war es gelungen, durch Geoengineering die Druckverteilung der oberen Atmosphäre zu manipulieren und somit das Wetter zu ändern. Voller Stolz verkündeten sie, dass sie den Wind gezähmt und unter Kontrolle gebracht hatten. Von nun an gäbe es keine zerstörerischen Stürme mehr, keine Windhosen, keine Böen. Nur noch eine gleichmäßige Luftströmung in konstanter Stärke und immer aus der gleichen Richtung. Die Menschen konnten sich endlich wieder gefahrlos in der freien Natur aufhalten.

 

Ich hatte mich noch nie so wohlgefühlt. Nach wenigen Tagen brach sogar die Sonne durch die Wolken, die jetzt gemächlich über den Himmel zogen. Die Leute in unserem Dorf veranstalteten Feste, die ersten seit vielen Jahren. Zum allerersten Mal hörte ich Kinder lachen, ohne dass der Sturm es sofort verschluckte. Die mit Staub und Schmutz bedeckten Solarpaneele, die seit Langem nicht mehr nutzbar waren, wurden gereinigt, die stillgelegten Windräder erneut in Betrieb genommen. Handwerker wagten sich wieder auf die Dächer, um diese zu reparieren. Bauern begannen damit, ihre Felder zu bestellen.

 

 »Komm her, Lukas«, hörte ich eines Morgens meinen Vater von draußen rufen. Freudig lief ich in den Garten und sah ein seltsames Ding in seinen Händen. »Das ist ein Drache, er lag noch irgendwo im Keller. Komm mit«, forderte er mich auf und wir liefen zu einer nahen Wiese. Mit glänzenden Augen sah ich zu, wie er dieses bunte Dreieck aufsteigen ließ, wie es hoch im Himmel flatterte und fast zu tanzen schien. Ich lernte, dass die Kraft des Windes nicht nur zerstörerisch sein kann, sondern auch etwas Wunderbares.

 

Als wir zurück zum Haus kamen, sah ich meine Mutter im Garten sitzen und gut gelaunt mit einigen Frauen aus der Nachbarschaft reden. Es waren gute Zeiten, die Menschen waren fröhlich und voller Hoffnung.

 

Ein Jahr verging. Die Wissenschaftler bekamen einen Nobelpreis, die Menschen frisches Obst und Gemüse. Sie hatten schon bald vergessen, wie es vorher war. Doch die Natur rebellierte. Sie ließ sich nicht austricksen und versuchte, diesen seltsamen Zustand wieder auszugleichen.

 

Wie jeden Tag ging ich zu Fuß zur Schule. Irgendetwas war jedoch anders als in den letzten Monaten. Es schien, als müsste ich mich mehr anstrengen, um gegen den Wind zu gehen. Ich blickte auf den Windpark auf dem nahen Feld. Drehten sich die Flügel schneller als gestern? Der Heimweg fiel mir deutlich leichter, als ob der Rückenwind stärker geworden wäre.

 

Erste Nachrichtensender berichteten, dass die Windgeschwindigkeit zugenommen hatte. Die Luft bewegte sich noch immer gleichmäßig in eine Richtung, aber stetig heftiger. Es bestünde jedoch absolut kein Grund zur Besorgnis.

 

In den kommenden Wochen stieg die Geschwindigkeit der Luftmassen konstant an. Aus der leichten, angenehmen Brise wurde ein rauer Wind, der über das Land fegte. Mein Vater fuhr noch immer mit dem Fahrrad zur Arbeit und blieb optimistisch, obwohl er Muskelschmerzen und rissige Lippen bekam, weil er gegen den trockenen Luftstrom ankämpfen musste. Meine Mutter aber erkannte die unheilvolle Veränderung und begann, Lebensmittel im Keller zu horten.

 

Die Wissenschaftler waren ratlos, sahen aber noch immer keinen Grund zur Sorge. Der Herbst kam und man machte uns glauben, dass es sich um jahreszeitliche Schwankungen handelte, die völlig normal seien. Erste mahnende Stimmen wurden laut, als die Windräder still gelegt werden mussten und die Stromversorgung in vielen Gegenden zusammenbrach.

 

Der Winter kam und der Sturm wurde eisig – und stärker. Ich sah, wie der Schnee waagerecht über den gefrorenen Boden getrieben wurde. Wer unbedingt nach draußen musste, konnte sich nur mit dem Rücken zum Wind bewegen, damit das Gesicht vor den scharfen Eiskristallen geschützt war. Die Bäume begannen, sich unter dem stetigen Druck zu beugen. Alles, was keine starken Wurzeln hatte, war schon längst aus dem Boden gerissen worden. Selbst die alte Eiche in unserem Garten kämpfte mit aller Macht gegen die zerstörerische Kraft an. Wie lange würde sie noch aushalten?

 

Umweltschützer wurden endlich angehört, aber die Warnungen kamen zu spät. Immer stärker wurde der Sturm. Ein riesiger, weltumspannender Wirbel zerrte an unserer blauen Kugel. Erstmalig wurde eine konstante Windgeschwindigkeit von 200 km/h gemessen.

 

In unserer Gemeinde waren nur noch Gebäude aus massivem Stein unversehrt. Anbauten waren verschwunden. Überall lagen Metallteile und Glassplitter von zerstörten Terrassenüberdachungen herum. Autos waren wie von einer übergroßen Faust zusammengeschoben worden. Von Hecken und Bäumen waren nur noch die Wurzeln übrig. Um uns vor herumfliegenden Trümmern zu schützen, vernagelte Vater die Fenster mit dicken Brettern.

 

Als der Strom ausfiel, holten wir die Kerzen aus einer Schublade und setzten uns im Wohnzimmer zusammen. Ich sah das verängstigte Gesicht meiner Mutter und den harten Blick meines Vaters, den sein Optimismus schon lange verlassen hatte. Der Sturm wurde täglich stärker und uns wurde klar, dass niemand mehr sicher war. Wir zogen in den Keller und warteten auf das Ende. Wenige Tage später hörten wir die schrecklichen Geräusche über uns. Die Wände hatten wohl nachgegeben und unser Haus stürzte mit einem letzten lauten Krachen in sich zusammen.

 

Vor etwa einer Woche spürten wir die ersten Veränderungen. Der Sturm war nicht mehr konstant. Später erfuhr ich, dass durch die Reibung, die die Luftmassen über dem Boden erzeugten, Wirbel und Turbulenzen entstanden waren. Die Strömung brach auseinander. Die Natur heilte sich selber. Die Erde war in einen neuen, rauen, aber überlebbaren Klimazustand zurückgekehrt.

 

Heute haben wir vorsichtig den Unterschlupf verlassen. Draußen tobt ein heftiger Wind, in Böen, mal stark, mal nachlassend. Von unserem Dorf ist nichts mehr zu sehen. Keine Gebäude, keine Bäume, keine Büsche, nicht mal Gras. In der Ferne erkennen wir eine andere Familie, die aus ihrem Schutzkeller kriecht.

 

Was haben wir getan? Wir wollten die Erde retten und haben sie stattdessen zerstört. Es gibt nur noch wenige Menschen, aber wir werden unsere Zivilisation wieder aufbauen. Egal, wohin der Weg uns führt, eines ist sicher: Wir werden nie mehr versuchen, die Natur zu beugen. Sie hat uns gezeigt, wer der wahre Herrscher über diese Welt ist und wird uns nie vergessen lassen, was wir ihr angetan haben.

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Letzte Aktualisierung: November 2025

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