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Dunkel war’s, der Mond schien helle

  • helmut-schreibt
  • 24. Nov.
  • 4 Min. Lesezeit

Ich musste an dieses Scherzgedicht denken, das durch widersprechende Aussagen geprägt war und wir als Kinder bis zur letzten Strophe auswendig kannten. Genauso sah es hier aus. Es war Mitternacht und nur der Vollmond warf sein Licht auf die Sträucher und die schmalen Wege aus dieser typischen Mischung von Kies und Splitt. Die Laternen wurden in dieser Jahreszeit zwei Stunden nach Sonnenuntergang ausgeschaltet, kurz nach dem Schließen der Zugangstore.

»Wer ist eigentlich auf diese dämliche Idee gekommen?« Ingrid zog den Reißverschluss ihrer Daunenjacke bis zum Kinn hoch.

Gerd grinste nur frech. »Ich sagte doch, wir machen heute Nacht eine Mutprobe. Hast du etwa Angst?« Seit Wochen redete er davon, uns etwas Besonderes zu zeigen.

»Ich fühle mich auch nicht besonders wohl hier«, meinte Max und nahm seine Freundin in Schutz und in den Arm.

Sonja suchte nach meiner Hand und wir liefen den anderen hinterher. Vor zehn Minuten hatte Gerd das Schloss des schweren Metalltors geknackt. Er hatte zwei seltsam geformte Werkzeuge aus seiner Umhängetasche geholt und damit nur ein paar Sekunden gebraucht. »Tadaa!«, hatte er stolz gerufen und das Tor geöffnet.

»Wo genau gehen wir eigentlich hin?«, wollte ich wissen.

»Das wird eine Überraschung«, flüsterte er geheimnisvoll. »Zum Glück ist der Mond hell genug, damit wir uns nicht verlaufen.«

Ich versuchte, mein Unbehagen nicht zu zeigen. Die Mädchen hatten auch so schon reichlich Angst. Friedhöfe haben besonders nachts eine ganz eigene Atmosphäre. Durch verwitternde Pflanzenreste, feuchtes Holz und alten Bewuchs riecht es immer ein wenig modrig. Unsere Schritte waren die einzigen Geräusche, abgesehen von Ingrids klappernden Zähnen. War ihr kalt oder fürchtete sie sich so sehr?

 

Gerd führte uns wie ein Nachtwächter zielstrebig über die schmalen Wege, vorbei an dichten Büschen und unter alten Bäumen hindurch bis zu einer Stelle am Ende des Friedhofs. Mir fiel auf, dass der Weg hier nicht mehr befestigt war und nur noch aus Sand und Rindenmulch zu bestehen schien.

»Wir sind da.« Gerd war stehen geblieben und wies auf eine gepflegte Grabstelle, die ein wenig abseits der anderen Gräber lag.

»Das ist nicht dein Ernst.« Max schnappte hörbar nach Luft. Ingrid klammerte sich noch stärker an ihn. »Hier liegt doch der alte Wagner, oder?«

Gerd nickte nur und zeigte sein typisches Grinsen. Sonja sah mich fragend an.

»Das war, bevor du hergezogen bist«, erklärte ich. »Bis vor acht Jahren lebte Wagner zurückgezogen in einer alten Hütte am Ortsrand. Es gab Gerüchte, dass er für das Verschwinden von zwei Jugendlichen vor über 30 Jahren verantwortlich war. Man konnte ihm zwar nichts nachweisen, aber jeder im Ort war von seiner Schuld überzeugt. Er verlor damals seine Familie und seinen Job und zog in das alte Haus seines Onkels. Ich fand ihn immer unheimlich und machte einen weiten Bogen um sein Haus. Nach seinem Tod erzählte man wilde Geschichten, dass es dort spukte und man das Weinen von Kindern hören könne. Niemand weiß, wovon er all die Jahre gelebt hat. Wenn er ab und zu mal gesehen wurde, trug er eine alte Jeans und ein schmutziges abgewetztes T-Shirt.«

»Aber das Grab sieht gar nicht aus wie das von einem mittellosen Menschen.«

 

Das war eines der ungelösten Geheimnisse unseres Ortes. Irgendjemand hatte die Kosten für die Beerdigung bezahlt und einen massiven Marmorstein aufstellen lassen. Auch die Grabpflege war wohl von dieser unbekannten Person beauftragt worden.

»Ich glaube, ich weiß jetzt, wieso Gerd uns ausgerechnet diese Nacht hierhergeführt hat«, sagte ich leise und zeigte auf die Fläche vor dem Grabstein. Dort lagen zwei weiße Rosen.

»Gruselig, oder?« Gerd wirkte jetzt gar nicht mehr so selbstsicher. »Jedes Jahr legt jemand in der Nacht, als die beiden Jugendlichen verschwanden, zwei Rosen aufs Grab. Seit acht Jahren. Bis heute hat niemand gesehen, wer das macht. Vor vier Stunden war ich schon mal hier und da lagen sie noch nicht da.«

»Ich möchte gehen.« Ingrid zog ihren Freund vom Grab weg. »Das ist mir zu unheimlich.« Sonja und ich schlossen uns den beiden an und gingen los Richtung Ausgang. Als ob jemand das Licht ausgeknipst hätte, verschwand plötzlich das Mondlicht. Eine dicke Wolke hatte sich davor geschoben und sorgte dafür, dass wir wie Blinde über den Friedhof tapsten. Irgendwo stieß ein Fuchs einen schrillen Schrei aus, der fast wie menschliches Kreischen klang. Zumindest hoffte ich, dass es ein Fuchs war. Nachdem wir endlich das Tor erreicht hatten, blieben wir heftig atmend stehen, um auf Gerd zu warten. Als er auch nach einer Viertelstunde nicht auftauchte, riefen wir nach ihm. Später brachte Max die Mädchen nach Hause und kam mit zwei Taschenlampen zurück. Es war an der Zeit, den makabren Spaß zu beenden. Wir gingen zum Grab des alten Wagner, aber unser Freund war nicht da.

 

Die Polizei durchsuchte nach Sonnenaufgang das gesamte Friedhofsgelände, sah in die Büsche und kontrollierte die vorbereiteten Gräber, die bereits ausgehoben und mit dicken Holzbohlen gesichert waren. Gerd war nirgendwo zu finden.

 

Am nächsten Tag stand ein ausführlicher Bericht darüber in der Zeitung, wie fünf Jugendliche die Totenruhe gestört hatten und dass einer von ihnen seitdem vermisst wurde. Auf dem Foto, das den Artikel begleitete, waren drei weiße Rosen auf einem Grab zu sehen.

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Letzte Aktualisierung: November 2025

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