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Lebenslänglich

  • helmut-schreibt
  • 18. Nov.
  • 5 Min. Lesezeit

Es war die sechste Pandemie innerhalb von sieben Jahren. Erneut waren alle Kontinente und Länder gleich betroffen, die Viren machten keinen Halt vor Grenzen, vor politischen Interessen oder vor Religionen. Zu Beginn traf es wieder hauptsächlich die Alten und Kranken. Doch diese Welle übertraf die schlimmsten Befürchtungen. Das Ende überlebten weniger als fünfhundert Millionen Menschen. Nur fünf Prozent der bis dahin mit über zehn Milliarden hoffnungslos übervölkerten Erde.

 

Meine Familie gehörte zu den unzähligen Opfern, ebenso meine Freunde und Nachbarn. An eine Beerdigung war nicht zu denken. Weltweit starben jeden Tag fünfundzwanzig Millionen. Die Leichen stapelten sich auf den Straßen und in den Häusern. Die Ratten waren häufig schneller als die Müllfahrzeuge, die Tag und Nacht die Körper einsammelten.

 

Es verbreitete sich das Gerücht, dass unverhältnismäßig viele reiche Menschen gegen die Erreger immun zu sein schienen. Journalisten fanden schließlich heraus, dass diese bereits seit Jahren einen Vorteil genossen, den „normale“ Menschen nicht hatten.

 

Schon während der ersten Pandemie hatten Pharmakonzerne Impfstoffe gegen die Viren erforscht und entwickelt. Dabei war es einem europäischen Unternehmen eher durch Zufall gelungen, einen vollkommen neuartigen Wirkstoff zu entwickeln. Dieser aktivierte nicht nur das Immunsystem, sondern stimulierte die natürlichen Reparaturmechanismen der DNA. Schäden, die sich normalerweise mit der Zeit akkumulierten und zu Zellmutationen, Krebs oder anderen Erkrankungen führten, gehörten nun der Vergangenheit an. Im Laufe von nur zwei Jahren wurde ein Präparat namens „Immortalis“ entwickelt, das nebenbei auch die Zellalterung stoppte. Allerdings war dieses Unsterblichkeitsserum nicht allen zugänglich. Einhundert Millionen Credits hatten nur wenige Tausend Menschen weltweit zur Verfügung. Wer es sich leisten konnte, ließ sich das Zeug verabreichen. Der Slogan lautete: Einmal spritzen, niemals sterben.

 

Die Wahrheit allerdings sah anders aus. Neid ist ein tückischer Feind. Nur eine Handvoll der Unsterblichen lebte länger als drei Jahre. Obwohl sie sich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hatten, waren sie nirgendwo wirklich sicher. Der Mob fand sie fast alle. Gegen Stichwunden und harte Schläge mit Baseballschlägern half auch das Serum nicht. Ich weiß es, weil ich dabei war. Ich bin kein guter Mensch. War ich noch nie. Ich hatte anderen Menschen das Leben genommen.

 

Die Pharmaindustrie reagierte schnell und fand die Lösung beim Axolotl, einem mexikanischen Salamander. Diese Tiere sind in der Lage, verlorene Gliedmaße nachwachsen zu lassen. Sie können sogar komplexe Gewebe und Organe nahezu vollständig regenerieren. Nachdem man das Geheimnis entschlüsselt hatte, stand der wahren Unsterblichkeit nichts mehr im Wege.

 

Endlich war der größte Menschheitstraum wahr geworden. Niemand, der es sich leisten konnte, würde jemals sterben müssen. Gut, es gab auch die armen Menschen, die Obdachlosen und die Faulpelze, die nie im Leben gearbeitet hatten. Aber wen kümmerten die schon?

 

Es gab nur noch sehr wenige reiche Menschen, daher wurde die Mittelschicht zur neuen Kundschaft. Kaum jemandem von ihnen war bewusst, was es bedeutet, ewig zu leben. Langeweile, Trauer über den Tod geliebter Menschen, die nicht unsterblich waren, Einsamkeit, Langeweile … oh, das sagte ich schon. Sie war es letztendlich, die die Unsterblichen müde machte. Sie wurden antriebslos, vernachlässigten ihre Arbeiten und ihre Familien, die daraufhin zerbrachen. Sie verloren ihre Jobs und ihre Einkommen. Viele von ihnen landeten auf der Straße. Sie wurden im wahrsten Sinne des Wortes lebensmüde und versuchten, sich selbst zu töten. Es gelang keinem von ihnen. Schnell wurden Rufe laut, die ein Recht auf Sterblichkeit forderten. Es dauerte kaum ein Jahr, bis die neue Weltregierung das Recht auf den Tod als ersten Paragrafen in die neue Verfassung aufnahm.

 

In dieser Zeit wurde ich verhaftet und wegen mehrfachen Mordes verurteilt. Man ließ mir die Wahl zwischen Todesstrafe oder lebenslänglicher Haft. Ich wählte das Leben und bekam das Serum. Damals hatte ich es nicht verstanden.

 

Ich kam in ein Arbeitslager und musste jeden Tag sechzehn Stunden in einer offenen Mine für Seltene Erden auf Grönland arbeiten. Dort herrschten unmenschliche Bedingungen. Die täglichen Erfrierungen verheilten bis zum nächsten Einsatz, aber ich hätte mir in meinen schlimmsten Albträumen nicht ausmalen können, unter welchen höllischen Schmerzen das ablief. Nachts konnte ich nicht schlafen, weil mich das Stöhnen der anderen Häftlinge im Schlafsaal wach hielt. Meine eigenen Schreie gingen unter in dieser Hölle. Sie interessierten einfach niemanden. Jeder war nur mit sich selbst beschäftigt.

 

Nach wenigen Wochen bereute ich meinen Entschluss und wollte sterben. Hätte ich mich doch für die Todesstrafe entschieden. Ewiges Leben war kein Segen, sondern eine Strafe, das hatte ich jetzt erkannt. Ich versuchte, aus diesem elenden Dasein zu entfliehen, das mir zur Qual wurde. Die Wärter, die ich um Gnade bat, wollten oder konnten mir nicht helfen. Es gab keine schweren Maschinen, mit denen ich meinen Körper hätte zerstören können. Mir blieb nur eine einzige Hoffnung. Von einem Mithäftling erfuhr ich, dass es im Abbaugebiet eine Stelle gab, wo sich die Lagerstätte unter einer Deckschicht befand. Diese unterirdische Mine musste einen Zugangsschacht haben. Es dauerte weitere Wochen, bis ich es geschafft hatte, in dieser Mine eingeteilt zu werden.

 

Endlich war es so

weit. Nach einem beschwerlichen Fußmarsch von einer Stunde konnte ich schon von weitem das Gerüst zu sehen, an dem der Förderkorb hing. Ich ließ meinen Kollegen den Vortritt und wartete mit den anderen, dass der Korb sich in die Tiefe bewegte. Es war einfacher, als ich dachte, um über die Absperrung zu klettern und mich hinterher fallen zu lassen. Es waren die glücklichsten sechs Sekunden in meinem Leben.

 

Was danach folgte, waren die schlimmsten Schmerzen, die ich jemals aushalten musste. Dieses Scheiß Serum in meinem Körper sorgte dafür, dass die Knochen wieder zusammenwuchsen, meine aufgeplatzte Haut sich schloss und sogar mein zermatschtes Gehirn sich regenerierte. Ich war gescheitert und ergab mich fortan in mein Schicksal. Es gab ohnehin kein Entrinnen.

 

Die Brutalität unter den Gefangenen hat gefühlt in den letzten achtzig Jahren zugenommen. Es gibt Clans, die die Herrschaft übernommen haben. Um ihre Macht zu demonstrieren, schneiden sie anderen die Finger oder Ohren ab – immer wieder, bis sie gefügig sind und sich ihnen anschließen. Die Wärter kümmern sich nicht darum. Sie sind sterblich und wechseln alle fünf Jahre. Die klimatischen Bedingungen und die physische Belastung lassen einen längeren Einsatz nicht zu.

 

Wie oft habe ich schon meine Entscheidung von damals bereut. Ich wollte doch einfach nur leben. Ich war noch jung und hatte ein paar beschissene Jahre hinter mir. Ich wollte mehr, viel mehr. Nun liege ich auf meiner Pritsche im Schlafraum und weine. Nicht wegen des Schmerzes oder der Verzweiflung, die sich tief in meine Seele gefressen hat. Ich weine vor Glück.

 

Ich bin zweihundertdreizehn Jahre alt. Morgen werde ich begnadigt. Man wird mir ein Mittel injizieren, dass das Unsterblichkeitsserum neutralisiert. Dann gilt auch für mich der erste Paragraf der Verfassung: Jeder hat das Recht auf den Tod!

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Letzte Aktualisierung: November 2025

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