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Ritter Rüdiger

Aktualisiert: 18. Okt. 2024

Eine Kindergeschichte zu Halloween


Rüdiger war eigentlich kein richtiger Ritter - aber er wollte es unbedingt werden. Wenn er erst erwachsen wäre, würde er der berühmteste Ritter aller Zeiten sein. Das hatte er sich fest vorgenommen.


Zu seinem sechsten Geburtstag schenkten ihm seine Eltern das Holzschwert, das er sich so sehr gewünscht hatte. Es sah ziemlich mickrig aus, also umwickelte er den Griff mit einer bunten Kordel. Heimlich schärfte er die stumpfe Klinge mit einem Messer seines Vaters. Jetzt brauchte er nur noch einen tapferen Gegner, um so lange zu üben, bis er sich mit anderen Rittern in einem Turnier messen konnte. Er holte ein altes Netz aus dem Stall und füllte es mit Blättern. Im nahen Wald fand Rüdiger schnell einen passenden Baum, an dem er das Netz befestigte. Fertig war der Gegner - es konnte losgehen!


Jeden Tag schlich sich Rüdiger in den Wald, um mit seinem Schwert zu trainieren. Nach ein paar Wochen hatte er so viele Netze zerschlagen, dass sein Vater es bemerkte und mit ihm schimpfte. Er brauchte unbedingt neue Gegner, echte Gegner. Er fand ein paar Jungs aus dem Dorf, die etwa im gleichen Alter waren. Rüdiger schaffte es, die Kinder für ein Ritterturnier im Wald zu begeistern. Doch schon bald passierte ein schlimmes Unglück. Rüdiger schlug bei einem Schwertkampf zu fest zu und verletzte dabei die Hand eines anderen Kindes. Daraufhin verbot ihm sein Vater weiter Ritter zu spielen und zerbrach das Schwert.


Die Zeit verging. Rüdiger war nun zwölf Jahre alt und spielte schon lange nicht mehr mit Holzschwertern. Eines Tages jedoch entdeckte er auf einem Jahrmarkt einen Stand mit alten Messern, kunstvollem Schmuck und echten Schwertern. Sein Herz machte einen Sprung — ein echtes Schwert! Er konnte es kaum glauben. Plötzlich kehrten all seine Kindheitsträume zurück. Das Ding, das da lag, war zwar verrostet und verbogen, aber es war ein echtes Schwert. Nach all den Jahren sah er endlich eine Chance, doch noch Ritter zu werden. Doch er hatte nicht genügend Geld bei sich.


Am späten Nachmittag ging Rüdiger nach Hause. Es war bereits dunkel. Er war fast angekommen, als er hörte, wie ein Mädchen um Hilfe rief. Sofort rannte er in die Richtung, aus der die Rufe kamen. Er sah vier Gestalten, die um ein Mädchen standen. Sie hatte Angst und weinte.


„Veronika, was ist los mit dir? Fürchtest du dich vor einem kleinen Tier?“, schrie ein Werwolf mit zotteligem Fell.


Rüdiger blieb erschrocken stehen. Neben dem Werwolf sah er noch ein Skelett, einen Vampir mit spitzen Eckzähnen und einen Mönch mit dunkler Kapuze. Sie hatten Spaß daran, das Mädchen zu erschrecken und zu ärgern.


Rüdiger zitterte am ganzen Körper vor Angst — aber auch vor Wut. Hätte er doch bloß das Schwert bei sich. Er stellte sich vor, wie er die Bösewichte damit in die Flucht schlägt. Er nahm all seinen Mut zusammen und brüllte die Gruppe an: „Hey, lasst sie sofort in Ruhe!“


Er hatte Erfolg. Veronika konnte sich befreien und ein paar Meter zurückweichen.


„Was macht ihr hier?“, fragte Rüdiger wütend.


Im Augenwinkel sah er plötzlich eine Bewegung. Der Werwolf kam brüllend auf ihn zu. Rüdiger drehte sich geschickt zur Seite und stellte ihm ein Bein. Der Angreifer stolperte und fiel der Länge nach auf den Boden. Rüdigers Übungen im Wald hatten wohl doch etwas genützt. Er drehte sich zu dem Werwolf um. Seine Maske war ihm beim Sturz vom Gesicht gerutscht. Es war nur ein Junge in einem Kostüm!


Rüdiger war so überrascht, dass er nicht bemerkte, wie sich das Skelett anschlich. Plötzlich packte ihn jemand, sodass er seine Arme nicht mehr bewegen konnte. Rüdiger stieß den Kopf nach hinten und knallte gegen etwas Hartes. Augenblicklich ließ der Angreifer los und heulte laut auf: „Aua, meine Nase!“ Das Skelett hielt sich die Hände vors Gesicht.


„Sagt mal, spinnt ihr denn?“, schrie Rüdiger die kostümierte Bande an.


Der Mönch und der Vampir wichen einen Schritt zurück. Nachdem sie gesehen hatten, wie Rüdiger kämpfte, hatten sie nun mehr Respekt vor ihm.


„Wir … ähm … wollten doch nur etwas Spaß machen“, antwortete der Mönch.


„Spaß? Das ist doch kein Spaß! Ihr habt das Mädchen erschreckt und ihr Angst gemacht. Glaubt ihr, sie weint, weil sie das lustig fand?“


Die Jungs schauten betreten zu Boden.


Rüdiger ging zu dem Mädchen, das auf einem großen Stein saß.


„Du heißt Veronika?“, fragte er.


Sie nickte mit dem Kopf.


„Bist du okay?“


Veronika sah ihn an und antwortete leise: „Ja.“


Rüdigers anfängliche Angst war komplett verflogen. Er sah die vier Gestalten an und forderte mit fester Stimme: „Ihr lasst Veronika jetzt in Ruhe!“


Die Jungs nickten beschämt. Der Vampir ging langsam zu dem Mädchen. „Entschuldigung“, murmelte er. Die anderen drei sahen sich unsicher an, folgten ihm schließlich und nuschelten: „War nicht so gemeint. Sorry.“ Mit hängenden Köpfen gingen sie weg.


Veronika umarmte Rüdiger.


„Danke! Es war so mutig von dir, dass du dich allein gegen die vier Jungs gestellt hast. Du bist ein wahrer Ritter für mich!“


Rüdigers Herz hüpfte vor Freude. Er war stolz auf sich. Das Schwert würde er nun nicht mehr brauchen. Er fühlte sich an diesem Tag mehr wie ein Ritter als jemals zuvor.


Diese Geschichte wurde in der Halloween-Ausgabe des Mitleseheftes von www.lies-mit.de veröffentlicht.

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1 Comment

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Heather
vor 7 Tagen
Rated 5 out of 5 stars.

Echte Ritter tragen ihr Schwert im Herzen. Süße Geschichte und eine sollte mal mit dem Rating beginnen.

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