Eine Wintergeschichte für Kinder
Tanika stand am Fenster und schaute traurig durch die nasse Scheibe auf die Straße. Es regnete schon seit Tagen und dicke Tropfen liefen vor ihrem Gesicht das Glas hinunter. Auf der Straße vor ihrem Wohnhaus hatten sich große Wasserpfützen gebildet. Sie lebte mit ihren Eltern seit drei Jahren in Deutschland. In ihrem Heimatland Libyen hätte man sich über den Regen gefreut, aber hier schien es gar nicht mehr aufhören zu wollen. Anstatt mit ihren Freundinnen draußen zu spielen, saß sie nun in ihrem Zimmer.
Plötzlich bemerkte sie, wie sich wie durch Zauberhand die Tropfen verwandelten. Sie wurden zu kleinen weißen Flocken.
„Mama, Mama, komm schnell“, rief sie aufgeregt und auch ein bisschen erschrocken.
Ihre Mutter kam ins Zimmer geeilt. „Was ist passiert, Kleines?“
„Eben hat es noch geregnet und jetzt sind da so komische weiße Flocken.“
„Das ist Schnee, Tanika.“
„Schnee? Was ist das?“
„Wenn es sehr kalt ist, gefrieren die Wassertropfen in den Wolken und werden zu kleinen Stückchen aus Eis. Die sammeln sich und wenn sich genug von denen aneinander geklammert haben, fallen sie herunter.“
„Und warum sind die Flocken weiß?“
„Oh, du stellst aber Fragen. Ich versuche mal, es zu erklären. Das Licht kann durch Wasser durchscheinen, darum sieht ein Wassertropfen durchsichtig aus. Die Schneeflocken bestehen aber aus vielen kleinen Kristallen. Da wird das Licht reflektiert und darum sieht Schnee weiß aus.“
„Das sieht wunderschön aus.“
„Ja, nicht wahr? Die Schneeflocken schweben sanft vom Himmel herab, ganz leise. Schau mal, wie still die Welt wird, wenn es schneit. Der Schnee legt sich auf alles wie eine flauschige Decke.“
Das kleine Mädchen beobachtete fasziniert, wie die weiße Pracht die Straßen und Häuser bedeckte. Alles wirkte so ruhig, so friedlich.
„Darf ich nach draußen, Mama?“
„Ja, aber wir warten noch ein wenig, bis der Schnee den ganzen Boden bedeckt hat.“
Tanika wartete ungeduldig. Sie zog sich schon mal eine warme Jacke an und stellte sich wieder vor ihr Fenster. Immer mehr von diesen dicken weißen Flocken fielen herunter. Endlich kam ihre Mutter herein.
„Komm, wir gehen nach draußen.“
Tanika zog schnell ihre gefütterten Stiefel an und rannte in den Schnee. Sie streckte ihre Arme aus und fing die Schneeflocken mit ihren Händen auf. Sie schaute sich um und sah ihre eigenen Fußabdrücke.
„Schau mal, Mama, man kann sehen, wo wir gegangen sind.“
„Ich habe eine tolle Idee. Leg dich doch mal auf den Rücken.“
Tanika schaute sie fragend an, legte sich dann aber in den hohen Schnee.
„Und nun wedele mit den Armen und Beinen wie ein Hampelmann.“
Sie war noch immer skeptisch, was ihre Mutter damit bezweckte, machte aber die Bewegungen und merkte, wie viel Spaß das machte.
„Jetzt steh auf und schau dir an, was du gemacht hast.“
Tanika rappelte sich auf und drehte sich um. Ein Strahlen erschien auf ihrem Gesicht. „Das sieht ja aus wie ein Engel.“
„Ja, ein Schneeengel.“
„Was machen wir jetzt?“
„Jetzt machen wir eine Schneeballschlacht.“
Mama bückte sich und nahm etwas Schnee in die Hand. Dann formte sie daraus einen kleinen Ball und warf ihn ihrer Tochter an den Arm.
„Hey, na warte!“
Tanika nahm ebenfalls etwas Schnee, presste ihn zusammen und warf ihn zu ihrer Mutter. Plötzlich kam von hinten ein weiterer Ball geflogen und traf sie am Rücken. Sie drehte sich um und sah, dass ihr Vater zu Hause war und sich an der Schlacht beteiligte.
Er kam zu ihnen und sagte: „Jetzt bauen wir einen Schneemann.“
„Wie macht man das, Papa?“
„Ganz einfach, du nimmst einen Schneeball und rollst ihn durch den Schnee. Dabei wird er immer größer.“
Tatsächlich, es klappte. Tanika rollte den Ball, bis er zu schwer war, um ihn weiterzubewegen.
„Super, das ist der Unterteil. Jetzt brauchen wir noch einen Ball, der ein wenig kleiner ist.“
Sie rollten gemeinsam, bis Papa sagte: „Das reicht. Den setzen wir jetzt auf die große Kugel.“
Er hob die schwere Schneekugel und setzte sie auf das Unterteil.
„Und jetzt kommt das Wichtigste: der Kopf. Dafür brauchen wir noch eine kleine Kugel.“
Tanika nahm erneut etwas Schnee in die Hand, drückte ihn zu einer Kugel und rollte sie durch eine frische Schicht Schnee.
„Reicht das, Papa?“
„Der ist perfekt. Der kommt jetzt obendrauf.“
Als sie fertig waren, stand Tanika vor dem Schneemann und schaute ihn lange an.
„Irgendwas fehlt da noch.“
Mama war kurz weggegangen und stand jetzt mit den Armen hinter dem Rücken wieder bei ihnen. Irgendetwas schien sie da zu verstecken.
„Was hast du da?“
„Das allerwichtigste für einen Schneemann.“ Sie nahm die rechte Hand nach vorne, in der sie eine dicke Mohrrübe hielt. Die steckte sie mitten in die oberste Kugel.
„Das ist die Nase.“
Dann nahm sie zwei Walnüsse und drückte diese ebenfalls in die Kugel, bis es so aussah, als hätte der Schneemann Augen.
„Hm, irgendwas fehlt noch. Was meinst du, Kleines?“
„Der Mund, ja klar, der Mund fehlt.“
Sie sah sich suchend um und fand ein paar kleine Kieselsteine, mit denen sie dem Schneemann ein Lächeln ins Gesicht zauberte.
„Schau mal“, rief Papa und kam mit zwei langen Zweigen. Er steckte diese rechts und links in die mittlere Kugel.
„Juchhu, jetzt hat mein Schneemann auch Arme“, jubelte Tanika.
„Das ist der beste Tag aller Zeiten!“, rief sie fröhlich. Sie war so glücklich über den ersten Schnee und all die Abenteuer, die er brachte.
An diesem Tag lernte Tanika, dass der Schnee die Welt nicht nur stiller macht, sondern auch voller Freude.
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